Musikwissenschaft im Reich der Kalifen

Musikwissenschaft im Reich der Kalifen
Musikwissenschaft im Reich der Kalifen
 
Ishak al-Mausili (* 767, ✝ 850), hoch begabt und bewandert in den Wissenschaften und Künsten seiner Zeit, gilt bis heute als der größte Musiker der arabischen Geschichte. Nach dem Tod seines Vaters Ibrahim al-Mausili bestellte ihn der Abbasiden-Kalif Harun ar-Raschid um 800 zum ersten Hofmusiker. Diese Position behielt er, mit Ehren und Reichtümern überhäuft, auch bei den nachfolgenden Kalifen bis zu seinem Tod. Nach den Berichten war Ishak, der entgegen der üblichen sozialen Geringschätzung der Musiker den Literaten und Gelehrten am Hof gleichgestellt wurde, ein in allen Bereichen versierter Musiker. Er brillierte als Lautenspieler und Sänger und schuf vollendete Kompositionen, er wirkte als Theoretiker und Musikschriftsteller, er bildete Musiker und Singmädchen aus. In dem berühmten »Buch der Gesänge« berichtet Abu l-Faradj al-Isfahani im 10. Jahrhundert über einen von Ishak geschaffenen, höchst originellen Saut (eine anspruchsvolle mehrteilige Vokalform, in der im Keim schon die späteren vielteiligen zyklischen Formen wie die ägyptische Wasla und die nordafrikanische Nauba vorgebildet sind), der den Kalifen al-Wathik zu höchstem Lobe hinriss. Schon der erste Vers, der nur vier Worte umfasse, sei kompositorisch vollendet und unter Einbeziehung aller Künste, die sonst der sängerischen Ausführung obliegen, ausgearbeitet worden. Selbst Mabad, der legendäre Sänger und Komponist der Omaijaden-Zeit des 7./8. Jahrhunderts, hätte ihn nicht übertreffen können
 
Es war die Zeit, in der die Kunstmusik des riesigen Kalifenreiches ihren Höhepunkt erreichte und weithin ausstrahlte. Das im Zentrum des Reiches entwickelte hohe Niveau der Musikausübung und Musiklehre wurde von Ishaks hochtalentiertem Schüler Sirjab, den der eifersüchtige Lehrer als gefährlichen Rivalen aus Bagdad vertrieb, nach Spanien übertragen. Sirjab gewann, nachdem er 822 von dem in Córdoba residierenden Omaijaden Abd ar-Rahman II. zum obersten Hofmusiker berufen worden war, eine ähnliche Wirkung wie sein berühmter Lehrer. Als er um 852 starb, stand die höfische Musikkultur in Andalusien auf ihrem Höhepunkt.
 
Diese Hochblüte der arabischen Musik zu Beginn der fünfhundertjährigen Abbasiden-Herrschaft kam nicht von ungefähr. Einerseits ermöglichten die Ergebnisse der hoch entwickelten Landwirtschaft mit ihren Bewässerungssystemen, des spezialisierten Handwerks, des blühenden Fernhandels, der aufblühenden Naturwissenschaften die Entfaltung eines luxuriösen Lebens der Oberschicht, in das auch die Musik als wesentliches Moment einbezogen war. Andererseits waren in ihr die großen musikalischen Leistungen und Traditionen der vielen im Kalifat zusammengeführten Völker des Vorderen und Mittleren Orients und des Mittelmeerraumes sowie ihrer Nachbarn aufgehoben. Schon im vorislamischen Arabien gab es eine reiche Musikkultur, die von dem entstehenden muslimischen Gemeinwesen aufgegriffen und weitergeführt wurde. Der Jemen stellte eine unerschöpfliche Quelle für musikalische Anregungen dar und die vorislamischen Königreiche Nordarabiens, der Lahmidenstaat und das Ghassanidenreich als Vasallenstaaten der Sassaniden beziehungsweise der Byzantiner besaßen eine hoch entwickelte Musikkultur. Auch das Kernland des Islam, der Hidjas um Mekka und Medina mit seinen Märkten und Handelsplätzen, bot breiten Raum für musikalische Leistungen und sängerischen Wettstreit. Es kannte nicht nur den Shair, den der alten Stammesgesellschaft zugehörenden Dichtersänger, und Gesang, Instrumentalspiel und Tanz der Frauen der Stämme zu Festen, bei Kriegszügen, zu Trauer und Klage, sondern selbst Singmädchen im Status von Sklavinnen oder Freigelassenen. Dichtersänger und Singmädchen trugen wesentlich zur Verbreitung und Übernahme der musikalischen Errungenschaften besonders der nordarabischen Staaten bei. Von an-Nadr ibn al-Harith (✝ 624), der zur Familie des Propheten Mohammed gehörte, wird berichtet, dass er in Hira (nahe Babylon), dem höfisch-kulturellen Zentrum Mesopotamiens, die Ud genannte Laute mit Holzdecke und den gehobenen Kunstgesang Ghina kennen lernte und im Hidjas bekannt machte. Mit den riesigen Eroberungen der Muslime in Nordafrika, im Vorderen und Mittleren Orient unter den orthodoxen Kalifen kamen die byzantinische und die persische Musikkultur unmittelbar in den Erfahrungskreis des Hidjas, dessen Musiker auch den Ton in Damaskus, der Hauptstadt der Omaijaden-Dynastie, angaben. Insbesondere waren es die Gesänge der zu Tausenden in den Hidjas verschleppten persischen Sklaven, die die Musiker aufhorchen ließen und schließlich zur Mode wurden. Ibn Misdjah, ein in Mekka geborener Freigelassener, der erste große Musiker der Omaijaden-Zeit, erregte dadurch Aufmerksamkeit, dass er arabische Verse auf persische Melodien sang. Er besuchte, wie nach ihm auch sein Schüler Ibn Muhris, Syrien und Persien, um deren Gesänge und Instrumentenspiel zu studieren. Heimgekehrt, passte er das Gelernte der Musik des Hidjas an. Seine Methode fand schnell Nachahmung. Die Neuerungen auf melodischem und rhythmischem Gebiet leiteten eine schnelle Entwicklung der höfisch-aristokratischen Musik im 7./8. Jahrhundert ein, an der Ibn Suraidj, Mabad, Junus al-Katib, die Sängerin Djamila, alles Freigelassene, die zumeist von unterworfenen Völkern abstammten, und unzählige andere Musiker beteiligt waren. Auf diesem Boden und unter kräftigem Zutun der persischen Hausmacht der in Bagdad residierenden Abbasiden erreichte dann die Musikkultur des Kalifenreiches ungeachtet der zunehmend heftigen Verdikte der Orthodoxie ihre Hochblüte.
 
Die Öffnung gegenüber den eroberten oder benachbarten Großreichen mit ihren alten Kulturen war nicht nur für die Entwicklung der Musikpraxis von Bedeutung, sondern auch für die theoretische Erfassung des angeschwollenen Reichtums an musikalischen Formen, Gestaltungselementen und Grundlagen. Hier wurden besonders die griechisch-byzantinischen Musikschriften wichtig, deren Übersetzung noch zu Lebzeiten Ishak al-Mausilis unter dem Kalifen al-Mamun (✝ 833) begann. Doch wurden schon zuvor im Rahmen der altarabischen Musiktradition theoretische Verallgemeinerungen entwickelt (Ibn Misdjah, Junus al-Katib, Chalil). Am klarsten ist die alttradierte Musiklehre in den Berichten des Abu l-Faradj al-Isfahani über Ishak al-Mausili dargestellt. Sie kreist um Fingerpositionen (»asabi«) und Tonfolgen (»madjra«) auf der Laute und verfügt über verschiedene rhythmische Perioden (»iqa«). Als dann im 9. Jahrhundert die Werke der altgriechischen Musiktheoretiker in Übersetzungen bekannt wurden, wandelte sich das ursprünglich noch eng an die Praxis angeschlossene musikalische Begriffssystem zur Wissenschaft von der Musik (»ilm al-musiqa«), die verschiedene Disziplinen entwickelte und in das Gesamtsystem der Wissenschaften eingereiht wurde. Jakub ibn Ishak al-Kindi, der im 9. Jahrhundert die Philosophie in den Islam einführte und deshalb »Philosoph der Araber« genannt wird, zeigt als erster in seinen Musiktraktaten - von zwölf namentlich bekannten sind immerhin noch fünf überliefert - enge Bezüge zur altgriechischen Musiktheorie. Er hat wohl auch selbst Übersetzungen angefertigt. Aber obwohl eine große Abhängigkeit von griechischen Vorstellungen über Musik bei al-Kindi festzustellen ist, versucht er vielfältig, die Vorgaben der Musikpraxis seiner Zeit anzupassen. So wandelte er aufgrund der Lautenstimmung die im »Vollkommenen System« (»Systema teleion«) der Antike gegebene Oktavgleichheit in eine verbundene Quartenfolge mit zugefügten Tönen um. Bei den nachfolgenden Musiktheoretikern - die bekanntesten sind Alfarabi (✝um 950), Ibn Sina (✝ 1037) und Safi ad-Din (✝ 1294) - verstärkt sich der Bezug auf die Musikpraxis ihrer Zeit in zunehmendem Maß und führt schließlich zur weitgehenden Unabhängigkeit von den alten theoretischen Quellen.
 
Prof. Dr. Jürgen Elsner

Universal-Lexikon. 2012.

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